Das Manifest

An einem 9. November in den letzten Jahren der deutschen Republik verschlang Kautsky, der die Welt besser verstehen wollte, als sie war, ein immer schon erträumtes Buch, das ihm, weil sich der Tag mit langen Gedanken hinzog, so schwer im Magen lag, dass er wach blieb, sich im Bett hin und her wälzte und erst spät, nachdem er die aufregenden Wörter in etlichen Flaschen Bier ersäuft hatte, einschlief. Ebenso viele Waffen! Nur das unmittelbare Vorspiel! Die Grundfrage der Bewegung!

Mitten in der Nacht stand er auf ohne zu wissen, dass er wach war, und lief durch das ganze Haus. Die Türen auf!, schrie er, ich renne raus und hebe ab, bevor die Nacht im kalten Tag verschwindet. Das Material steht bereit, der Plan ist gefasst, der Turban aus Leinen gewickelt. Kautsky stieg ins Auto. Um 11 war die Flugstunde. Er dachte, während er über die Kölner Autobahn fuhr, darüber nach, wie er zum Flugzeug lief und den Motor startete. Kautsky kam pünktlich in Wahn an, aber der Fluglehrer, der noch eine Maschine checkte, ließ Kautsky mitteilen, er solle in der Lounge auf ihn warten. Ich plane alles. Das Prüfen des Winds. Ich kann fliegen! Kautsky lachte, als er die warme Fliegerjacke anzog. Er ging durch die Glastür zu dem Hangar, vor dem die flugbereiten Maschinen standen, darunter auch die Cessna 172, mit der er immer flog. Es ist hohe Zeit. Auf den letzten Metern rannte er und sprang in das Flugzeug. Die Maschine war voll getankt. Das reichte. Er legte die Brille an, setzte die Fliegerkappe und die Kopfhörer auf. Dann zündete er den Motor, rollte auf die Startbahn und startete in den Himmel. Der Tower rief ihn, aber Kautsky anwortete nicht. Er flog nach Norden um alle Verfolger zu täuschen. Einem Hubschrauber der Landespolizei, der die Cessna wenig später abfangen wollte, wich Kautsky aus, indem er einen Looping in den Himmel zeichnete, und schoss davon. Ich will den Fahrtwind rauschen hören, der mir den Turban auseinander reißt, die feuchten Tücher sind eng gewickelt. Im Tiefflug nach Osten verloren ihn die Radargeräte bald. Der Turban lastet schwer. Zwei Jets der Bundeswehr jagten die Spur der Cessna, als sie im Westen Berlins aufstieg, von den Radargeräten erfasst wurde und sich hoch über dem Reichstag vom Himmel stürzte. Ich hör den Fahrtwind rauschen. Ein Wind, der von den Sternen kommt. Die Tücher lass ich hinter mir. Die Maschine raste im Sturzflug auf die Kuppel des Reichstags zu. Ich schneid die Wolken auf wie Eis. Kautsky dachte nichts mehr. Aber er sah die helle Kuppel, auf die er schoss und prallte, eine lange Zeit, die gegliedert war. Er kam von der Sonne und hatte den Kreislauf in der Hand. Die Maschine durchschlug das künstliche Glas der Kuppel und stürzte in den Trichter, in dem sie stecken blieb. Die zerschmetterte Spitze der Cessna aber fiel direkt vor das Rednerpult. Der Klumpen schlug dumpf ins Holz. Die Abgeordneten starrten zur Mitte und reckten die Hälse in den Lärm des Metalls. Der Stumpf der Cessna ragte aus dem Schlund der Kuppel in den Plenarsaal des Bundestages. Das Cockpit hing dort oben fest. Die Abgeordneten sprangen von den Sitzen. Sie waren gelähmt. Kautsky kippte langsam aus dem Sitz der Cessna. Die Jacke fiel über den Kopf. Dann löste sich der Kopf vom Rumpf, flog wie von Flügeln getragen quer durch den Saal und stürzte über der Regierungsbank wie ein Stein nach unten auf das Pult des Kanzlers. Nichts als Lügen! Nichts als Lügen! Die Glocken sollen läuten! Ich kann fliegen! Aus Kautskys Jackentasche fiel ein Zettel. Er flatterte dem Kopf hinterher. Die Abgeordneten verfolgten den Flug des Zettels. Als er unten angekommen war, lasen sie die Schrift: „Sie haben eine Welt zu gewinnen.“